Vom Nationalsozialismus überzeugt? Politische Einstellungen religiöser Gruppen und Individuen in der NS- und Nachkriegszeit

Organisatoren
Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH); Universität Münster; Landesarchiv Schleswig-Holstein; Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
PLZ
20144
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
14.09.2023 - 15.09.2023
Von
Marvin Becker, Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg; Helge-Fabien Hertz, Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen; Lisa Klagges, Institut für Politik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Greifswald

Wie waren Vertreter der beiden christlichen Großkirchen zum Nationalsozialismus eingestellt? In der Soziologie, Sozialpsychologie und pädagogischen Diagnostik wird das latente Konstrukt der „Einstellungen“ mittels Items erhoben und über Indikatoren operationalisiert. Im Zentrum der interdisziplinären Tagung stand die Frage, wie sich vergangene politische Einstellungen von Personen, die nicht mehr befragt werden können, erfassen lassen. Dem gingen Vertreter:innen der Geschichts-, Sozial- und Politikwissenschaft, der Religionssoziologie sowie der Kirchengeschichte auf allen drei gesellschaftlichen Ebenen mit ihren unterschiedlichen methodischen Herausforderungen nach: der Mikroebene (Individuen), der Mesoebene (spezifische Untersuchungsgruppen) und der Makroebene (deutsche Bevölkerung).

In zwei Hauptvorträgen ordneten OLAF BLASCHKE (Münster) und PETER GRAEFF (Kiel) die Frage methodologisch ein. Blaschke knüpfte an die Tagung „Was glaubten die Deutschen 1933-1945?“1 zur hybriden oder Doppelgläubigkeit von Protestanten und Katholiken im NS-Regime an und diskutierte verschiedene Methoden und Quellen zur Einstellungserfassung auf der Mikro-, Meso- und Makroebene. Auf der Grundlage positiver und negativer Einstellungsobjekte ließen sich präzise Befunde über die Einstellungen religiöser Gruppen und Individuen zum Nationalsozialismus erreichen. Graeff schilderte Entwicklung und status quo der Methoden der Einstellungsforschung in der Soziologie. Auch aus historischem biographischem Material könnten mit den Mitteln der modernen empirischen Sozialforschung Einstellungen abgeleitet werden.

Im ersten Panel der Tagung zur Mikroebene (Einzelakteure) zeigten NORA ANDREA SCHULZE (München) und MANFRED GAILUS (Berlin), wie viel Einstellungsforschung in klassischen biografischen Studien stecken kann. Schulze referierte anhand der Lebensgeschichte des ehemaligen, bayrischen Landesbischofs Hans Meiser einerseits die lange Wirkkraft seiner obrigkeitsstaatlichen und monarchistisch-nationalistischen Sozialisation im Kaiserreich, andererseits aber auch seine sich langsam vollziehende Haltungsänderung in Bezug auf das NS-Regime, dessen Kirchenpolitik er scharf abgelehnt habe. Als probates Mittel zur Einstellungserhebung stellte sie Oral-History-Interviews in Kombination mit breit gefächertem Quellenstudium heraus. Gailus legte in seinem Vortrag über den späteren EKD-Ratsvorsitzenden Otto Dibelius das Hauptaugenmerk auf dessen publizistisch geäußerten Einstellungen zum Nationalsozialismus in den Jahren 1932 bis 1934. Der rasche Wechsel von freudiger Erwartung über Erfüllung und dann Enttäuschung bis hin zu partieller Abkehr verdeutlichte die zeitliche Instabilität von Einstellungen gerade in den turbulenten Zeiten eines Systemwechsels. Als dritter Referent behandelte KLAUS GROSSE KRACHT (Hamburg) anhand der katholischen Laien Erich Klausener und Walter Dirks irritierend positive Haltungsäußerungen aus dem Jahr 1933 zum neuen Regime, die als Ausdruck von Suchbewegungen innerhalb des katholischen religiösen Feldes zu begreifen seien, welches sich im Zuge der Aushandlung und Implementierung des Reichskonkordats rasch veränderte. In dieser Umbruchzeit hätten die beiden engagierten und dezidiert antiklerikal eingestellten Laien eine Konvergenz, also eine zukünftige Annäherung von katholischem Milieu und Nationalsozialismus, herbeigesehnt. Zum Abschluss des Panels setzten DETLEF POLLACK (Münster) und MARVIN BECKER (Hamburg) einen interdisziplinären Akzent. Am Beispiel des Nationalprotestantismus gingen sie der Frage nach, inwiefern von Einstellungsäußerungen einzelner Akteure auf kollektive Überzeugungen ihres Milieus rückgeschlossen werden könne. Zunächst erläuterte Pollack seine These von „abbrechenden Kontinuitätslinien“ im Protestantismus nach 1945, dessen Akteure in ihrer bisherigen nationalistischen Einstellung durch die Zäsur 1945 erschüttert worden seien. Dies belegte er anhand der Schuldbekenntnisse von Kirchenführern und -gremien in der Nachkriegszeit sowie von ihm in den 1990er-Jahren geführten Interviews mit ostdeutschen evangelischen Kirchenführern. Hierauf stellte Becker zur Diskussion, inwiefern durch die Analyse deutsch-christlicher Äußerungen zum Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit Aufschlüsse über das protestantische Denken möglich seien. Er griff dabei auf das Modell sozialer Netzwerke als Trägergruppen von Diskursen (Sabrina Hoppe) zurück und versuchte durch den Vergleich von Binnen- und Außenkommunikation deutsch-christlicher Netzwerke jeweils Regeln des Sagbaren zu rekonstruieren, die die Verbalisierung innerer Einstellungen regulierten. Dieses Diskursregulatorium verweise auf dahinter liegende kollektive Überzeugungen des Netzwerks und trage gleichzeitig in einem Prozess wechselseitiger Beeinflussung zu deren Veränderung bei.

Anschließend wurden auf der Mesoebene konkrete Untersuchungsgruppen ins Zentrum gestellt. LUCIA SCHERZBERG (Saarbrücken) beleuchtete die politische Einstellung der Mitglieder der „Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden“ sowie ihren Vorgänger- und Nachfolgeorganisationen. Als wichtige Quellen für die Bildung von Indikatoren stellte sie Parteibücher und -akten, Selbstdarstellungen, Fremdäußerungen oder Grußformeln heraus; ergiebig seien ferner Zugänge über die Rollentheorie oder das Konzept der „Volksgemeinschaft“. Letzteres stellte auch MARKUS RAASCH (Mainz) in den Mittelpunkt seiner Ausführungen über das Verhältnis des katholischen Milieus in Eichstätt zum Nationalsozialismus. Über eine Mischung aus Top-Down- und Bottom-Up-Zugriff könne eine differenzierte Untersuchung von Semantiken, Praktiken und Emotionen erfolgen und so politische Einstellungen ermittelt werden. Anschließend setzte HELGE-FABIEN HERTZ (Essen) mit dem „NS-Überzeugungsscore“ einen weiteren interdisziplinären Impuls. Zunächst stellte er 36 anhand der schleswig-holsteinischen Pastoren der NS-Zeit gebildete Einstellungsindikatoren sowie die Methode ihrer Generierung und Validierung vor. Indikatoren erhöhten stets die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins von Zustimmung oder Ablehnung zum Nationalsozialismus, so die These, ohne sie mit Sicherheit anzeigen zu können. Erst auf der Grundlage ihrer Verarbeitung in einem Messmodell, dessen Herzstück der Score sei, könnten aus dem Set an Indikatoren auf die Einstellung der jeweiligen Person rückgeschlossen und auf diese Weise auch große Personengruppen analysiert werden.

Auf der Makroebene stand die Frage nach den Einstellungen der auch in der NS-Zeit christlich geprägten deutschen Gesellschaft zum Nationalsozialismus im Vordergrund. THOMAS BRECHENMACHER (Potsdam) gab Einblicke in ein Forschungsprojekt, das über die quantitative Analyse der Vornamensgebung die öffentliche Meinung für vordemoskopische Perioden zu erfassen suchte. Statistische Häufungen von Vornamen wie Adolf (Hitler), Horst (Wessel) oder germanische Vornamen ließen im Zusammenspiel mit anderen Indikatoren durchaus Rückschlüsse auf die Akzeptanz des Nationalsozialismus in der Bevölkerung zu, wobei zu prüfen sei, ob der Vornamens-Indikator auch für besonders kirchennahe Gruppen wie Pfarrer gelte. JANOSCH STEUWER (Halle) griff die These auf, dass es eine kollektive Meinung der Bevölkerung zum Nationalsozialismus nicht gegeben habe (Peter Longerich). Auf der Basis von 140 Tagebüchern aus der NS-Zeit stellte er heraus, dass Kommunikationsstrukturen zur Wahrnehmung einer kollektiven Zustimmung geführt hätten, während gleichzeitig eine Vielzahl von Meinungen verborgen geblieben sei. Um auch divergierende Gedanken hinter dem binären Konzept von Zustimmung/Ablehnung sichtbar zu machen, dürften qualitative Messverfahren nicht außer Acht gelassen werden. Einen weiteren interdisziplinären Impuls setzten JÜRGEN W. FALTER (Mainz) und LISA KLAGGES (Greifswald), die in einer quantitative Inhaltsanalyse Berichte von NSDAP-Mitgliedern auf ihre Eintrittsmotive hin auswerteten. Die Entscheidung zum Beitritt sei in der Regel die Folge eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Faktoren gewesen, von denen die ideologische Einstellungskomponente einer gewesen sei. Durch den Abgleich von Aussagen derselben Personen in ihren späteren Entnazifizierungsakten könnten darüber hinaus Schlussfolgerungen bezüglich der angewandten Argumentationsstrategien während des Entnazifizierungsprozesses gezogen werden.

In der Abschlussdiskussion wurde das Potenzial des Einstellungsbegriffs für die historiografische Forschung festgehalten. So akzentuiere dieser die Notwendigkeit zur Sensibilisierung gegenüber der Frage nach dem Innenleben historischer Personen, die nicht mit der in Quellen unmittelbar zugänglichen Verhaltensebene gleichzusetzen sei. Grundvoraussetzung einer historiografischen Einstellungsforschung sei einerseits die begriffliche Klärung der Kategorie „Einstellung“ in konzeptueller Abgrenzung zu Begriffen wie „Haltung“ oder „Mentalität“, andererseits stärkere methodische sowie quellenkritische Reflexionen des eigenen Erkenntnisprozesses. Die im Rahmen der Tagung zusammengetragenen, aus verschiedenen Disziplinen kommenden Forschungsansätze sollen in einem Tagungsband als – keineswegs erschöpfender – „Methodenkoffer“ für eine historiografische Einstellungsforschung zum „Dritten Reich“ veröffentlicht werden, der sowohl quantitative Zugänge (Indikatorenforschung) als auch hermeneutische Ansätze umfasst. Er möchte pragmatische Anregungen für die Mikro-, Meso- und Makroebene bereitstellen, aus deren Arsenal künftige Forschungsvorhaben zu politischen Einstellungen religiöser Gruppen und Individuen im Nationalsozialismus schöpfen und die auch darüber hinaus Anreize für die Geschichtswissenschaft setzen können.

Konferenzübersicht:

Moderation: Thomas Großbölting (Hamburg) / Rainer Hering (Schleswig)

Hauptvorträge

Olaf Blaschke (Münster): Einführende Überlegungen über „Einstellungen“ als Analysekategorie für Forschung zu Kirchen und Nationalsozialismus

Peter Graeff (Kiel): Einstellungsforschung in der Soziologie

Panel I: Mikroebene
Nora Andrea Schulze (München): Politisch neutral? Landesbischof Hans Meiser im Wechsel der politischen Systeme

Manfred Gailus (Berlin): Otto Dibelius und das „Dritte Reich“

Klaus Große Kracht (Hamburg): Grenzen und Konvergenzen. Biographische Annäherungen zum Verhältnis von Katholizismus und Nationalsozialismus

Interdisziplinärer Impuls

Detlef Pollack (Münster) / Marvin Becker (Hamburg): Vom Besonderen zum Allgemeinen. Über die sich verändernden Einstellungen einzelner Protestanten und den Abbruch nationalprotestantischer Mentalitäten nach 1945

Panel II: Mesoebene

Lucia Scherzberg (Saarbrücken): Die „Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden“, ihre Vorgänger- und Nachfolgeorganisationen

Markus Raasch (Mainz): Volksgemeinschaft und Katholischsein in Eichstätt. Theoretisch-methodische Überlegungen zu einer Konfessionsgeschichte des Alltags im Nationalsozialismus

Interdisziplinärer Impuls: Helge-Fabien Hertz (Essen): Der „NS-Überzeugungsscore“. Indikatorbasierte Messung politischer Einstellungen schleswig-holsteinischer Pastoren der NS-Zeit

Panel III: Makroebene

Janosch Steuwer (Köln): Ein Phantom und wie man es zu fassen kriegt. „Volksmeinung“ und politische Meinungsbildung in der NS-Diktatur

Thomas Brechenmacher (Potsdam): Vornamengebung als demoskopischer Indikator? Rückblicke auf ein Forschungsprojekt

Interdisziplinärer Impuls: Jürgen W. Falter (Mainz) und Lisa Klagges (Greifswald): Eintrittsmotive in die NSDAP

Abschlussdiskussion

Anmerkung:
1 Tagungsbericht: Was glaubten die Deutschen 1933-1945? Eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Religion und Politik im Nationalsozialismus, In: H-Soz-Kult, 15.02.2019, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-126681. (06.11.2023)

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